Bern – Schriftstellerin, Journalistin, Fotografin, Reisende: Annemarie Schwarzenbach ist eine der schillerndsten Figuren der modernen Schweizer Kulturgeschichte. Erstmals in der Schweiz widmet sich eine Ausstellung ausschliesslich ihrem rund 4‘000 Bilder umfassenden fotografischen Werk, das auf langen Reisen durch Europa, Asien, Afrika und Amerika entstanden ist. Der Dialog zwischen Schwarzenbachs Texten und Fotografien eröffnet den Blick auf die Umbrüche und Konflikte der 1930er-Jahre. Zugleich erschliesst Schwarzenbach mit ihrem dokumentarischen Auge Themen von erstaunlicher Poesie und verblüffender Aktualität.
Der Titel «Aufbruch ohne Ziel» bezieht sich auf das Leben von Annemarie Schwarzenbach, das von einer grossen Rastlosigkeit geprägt war. Heimatlosigkeit, Entwurzelung, Aufbruch und die Suche nach Hoffnung in der Fremde sind Motive, die sich wie ein roter Faden durch ihr schriftstellerisches und fotografisches Werk ziehen und es mit der literarischen Tradition der Moderne verbinden.
Schwarzenbach wurde 1908 in die wohlhabende Züricher Industriellenfamilie Schwarzenbach-Wille geboren und studierte in Zürich und Paris Geschichte mit Promotion. Aufgrund ihrer politischen und sexuellen Orientierung wandte sie sich von ihrer konservativen Familie ab und pflegte Beziehungen zur literarischen Diaspora Deutschlands, insbesondere zum Geschwisterpaar Klaus und Erika Mann. Ab 1931 hält sie sich zunächst in Berlin, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Spanien, Russland und dem Iran auf und publiziert prosaische und journalistische Texte.
«Annemarie Schwarzenbach war gleich mehrfach talentiert – als Schriftstellerin, Journalistin und Fotografin. Gerade die Gegenüberstellung von Text und Bild zeigt Schwarzenbachs präzise Beobachtungsgabe im Blick auf die konfliktreiche Zeit der 1930er Jahre.»
Martin Waldmeier, Kurator
Trotz ihres jahrelangen Kampfes gegen die Drogenabhängigkeit professionalisierte sie sich im Laufe der 1930erJahre als Reise- und Feuilletonjournalistin und richtete dabei auf gemeinsamen Reisen mit Schriftstellerinnen und Fotografinnen wie Ella Maillart, Marianne Breslauer oder Erika Mann ihr Augenmerk auf gesellschaftliche und politische Themen, darunter den Aufstieg des Nationalsozialismus, die Arbeiterbewegung in den USA, die Folgen der Modernisierung oder die Rolle der Frauen in der Gesellschaft. In ihren Fotografien zeigt sich aber auch die Sehnsucht nach der Fremde und die Poesie des Reisens.
Annemarie Schwarzenbach verstand sich als Schriftstellerin. Sie war aber auch eine Pionierin der Reportagefotografie in der Schweiz. Ihr fotografisches Werk entstand in direktem Zusammenhang mit ihren journalistischen Texten. Rund 300 Textbeiträge von ihr erschienen zu Lebzeiten in Schweizer Zeitschriften und Zeitungen. Ab 1933 waren diese zunehmend von eigenen Bildern begleitet. Der Grossteil ihrer Fotografien blieb zu Schwarzenbachs Lebzeiten unveröffentlicht. Die Ausstellung «Aufbruch ohne Ziel» macht erstmals Qualität und Umfang von Schwarzenbachs fotografischem Werk ersichtlich. Insbesondere dem Schnittfeld zwischen Texten und Bildern wird erstmals stärkere Beachtung geschenkt.
Die Ausstellung ist in sechs Kapitel gegliedert, die um eine Lese-Lounge mit Hörstationen zu ausgewählten Reportagen Schwarzenbachs angeordnet sind. Das erste Kapitel Liebe zu Europa greift die ersten fotojournalistischen Jahre Annemarie Schwarzenbachs und ihre Reisen durch Europa auf. In ihm verdeutlicht sich Schwarzenbachs kosmopolitische Haltung:
«Annemarie Schwarzenbach sah sich als Europäerin. Im Angesicht des Nationalsozialismus fürchtete sie um das kulturelle und intellektuelle Erbe Europas – das Erbe des Humanismus, der geistigen Toleranz – von dessen Einzigartigkeit sie überzeugt war.»
Martin Waldmeier, Kurator
Das Kapitel Kleine Begegnungen erzählt mit zahlreichen Porträtaufnahmen die Geschichte von Menschen, denen sie auf ihren Reisen begegnete, und zeigt auch einen persönlichen Blick Schwarzenbachs auf ihren Freundeskreis. Die «neue Erde» thematisiert das Verhältnis von Natur und Kultur im Kontext von Mechanisierung und Industrialisierung, der Schwarzenbach ambivalent gegenüberstand. Jenseits von New York führt auf ihre USA-Reisen der Jahre 1936- 1938. Dort setzt sich Schwarzenbach intensiv mit einem neuartigen Verständnis von politisch engagierter Fotografie auseinander und begegnet einer Gesellschaft, die weiterhin vielerorts von der Wirtschaftskrise nach 1929 gezeichnet ist. Arbeitslosigkeit, Armut, Dürren, der Niedergang der Baumwollindustrie – ihr Blick richtet sich auf die Verlierer des amerikanischen Systems und thematisiert Differenzen zwischen Arm und Reich, aber auch das weit verbreitete Elend der afroamerikanischen Bevölkerung in den Südstaaten. Das glückliche Tal folgt Schwarzenbachs berühmten Autoreisen durch Vorder- und Zentralasien. Vier Mal reiste sie in die Türkei, nach Palästina und Syrien, in den Irak, den Iran und bis nach Afghanistan und Indien. Ihr bekanntestes literarisches Werk Das glückliche Tal (1940) verfasste sie im Iran. Zwischenorte wie Strassen, Häfen oder Schiffsdecks werden im letzten Kapitel «Zwischen den Kontinenten» zu Orten einer vorübergehenden Gemeinschaft, zu Schauplätzen von Abschied und Neuanfängen.
«Im Sinne der spartenübergreifenden Ausrichtung des Zentrum Paul Klee ist es reizvoll, Schwarzenbachs Ausdrucksformen als Schriftstellerin, Fotografin und Journalistin zueinander in Bezug zu setzen. Gleichzeitig adressiert ihr Werk virulente Themen wie das Verhältnis der Schweiz zur Welt, sexuelle Identität, globale Moderne, oder die Gleichzeitigkeit von gesellschaftlichem Fortschritt und Rückwärtsbewegung, die noch heute aktuell sind.»
Nina Zimmer, Direktorin Kunstmuseum Bern – Zentrum Paul Klee