Bern – Vom 7. September 2024 bis 5. Januar 2025 zeigt das Zentrum Paul Klee Brasil! Brasil! Aufbruch in die Moderne. Zum ersten Mal in der Schweiz gibt eine Ausstellung einen umfangreichen Einblick in die moderne Kunst Brasiliens sowie in Geschichte, Literatur, Musik, Design und Architektur des Landes. Im Anschluss wird die Ausstellung an der Royal Academy of Arts in London zu sehen sein.
Brasil! Brasil!
Brasilien ist das bei weitem grösste Land Südamerikas und eines der bevölkerungsreichsten Länder der Welt. Es ist landschaftlich enorm vielseitig und reicht vom Amazonas-Regenwald bis zu den berühmten Stränden der Copacabana. Die Artenvielfalt ist nirgendwo so dicht wie hier im tropischen Regenwald, die ökologische Bedeutung des Landes für das Weltklima immens.
Ebenso beeindruckend ist der kulturelle Reichtum Brasiliens. In der brasilianischen Kunst und Kultur mischen sich indigene, von den portugiesischen Kolonisator:innen und den bis Ende des 19. Jahrhunderts als Sklav:innen nach Brasilien verschleppten Menschen aus Westafrika mitgebrachte Kulturen. Heute wird die Kultur zudem von Einwander:innen aus der ganzen Welt bereichert. Die Millionenstädte Rio de Janeiro, São Paulo und Brasília sind Metropolen, in denen alle Gegensätze des Landes zusammenkommen. Nur hier konnten Musikgenres wie Samba und Bossa Nova und der Karneval entstehen.
Auf der Suche nach einer eigenen Identität
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Brasilien eine junge Nation im Wandel. 1889 wurde nach 67 Jahren Kaiserreich die erste Republik mit der Hauptstadt Rio de Janeiro ausgerufen. Wirtschaftlich profitierte das Land von seiner annähernden Monopolstellung im weltweiten Kaffeehandel, der sein Zentrum in der Hafenstadt Santos im Bundesstaat São Paulo hatte. Zudem war 1888 die Sklaverei abgeschafft worden. Viele der ausgebeuteten Arbeiter:innen und ehemals versklavten Menschen migrierten in die Region von São Paulo, um vom dortigen wirtschaftlichen Aufschwung zu profitieren. Diese Aufbruchstimmung spiegelt sich in der Kunst, Literatur, Musik sowie in
Design und Architektur wider. Die moderne Architektur, die durch Architekt:innen wie Oscar Niemeyer und Lina Bo Bardi eine ganz eigene ikonische Ausprägung fand, oder die Entwicklung des Karnevals in Rio de Janeiro sind von dieser Energie und Vielfalt geprägt. Die Suche nach einer nationalen Identität erwies sich angesichts der heterogenen Bevölkerung und der vielen unterschiedlichen regionalen Kulturen allerdings als eine besondere Herausforderung.
Aufbruch in die Moderne
Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der brasilianischen Unabhängigkeit finanzierte der Kaffeemagnat Paulo Prado – einer der einflussreichsten Oligarchen – 1922 mit der Semana de Arte Moderna eine Woche mit kulturellen Veranstaltungen, um das wirtschaftliche Zentrum São Paulo neben Rio de Janeiro auch zur Hauptstadt der modernen künstlerischen Entwicklung zu machen. Neben einer Kunst- und einer Architekturausstellung wurden im Rahmen der Semana auch Konzerte, Tanzaufführungen, Vorträge und Lesungen abgehalten. Erstmals wurden so die verschiedenen Künste als eine Avantgardebewegung auf der Suche nach einer brasilianischen Moderne zusammengebracht.
Wie die Avantgarde in Europa strebten auch Kunstschaffende in Brasilien danach, den vorherrschenden institutionalisierten, klassizistischakademischen Kunstkanon des 19. Jahrhunderts zu überwinden. Sie suchten zudem nach Möglichkeiten, um sich von der künstlerischen Ausrichtung der portugiesischen Kolonisator:innen zu lösen und eine eigene Bildsprache zu entwickeln. Es ist daher kaum erstaunlich, dass sie den Austausch mit europäischen Zeitgenoss:innen suchten. Brasilianische Kunstschaffende aus wohlhabenden Familien oder mit Reisestipendien reisten für längere Aufenthalte nach Europa – Anita Malfatti nach Berlin oder Tarsila do Amaral, Candido Portinari, Vicente do Rego Monteiro und Geraldo de Barros nach Paris. Die Auseinandersetzung mit der europäischen Avantgardekunst, insbesondere mit dem Expressionismus, Futurismus und Kubismus, hinterliess Spuren in ihren Werken. Zurück in Brasilien strebten sie jedoch alle danach, eine moderne brasilianische Kunst zu gestalten. Sie setzen sich mit Traditionen und Themen auseinander, die sie als «ihre eigenen» definierten: die indigenen Bräuche, die von Sklav:innen eingeführten afrobrasilianischen Kulturen, die ethnische Pluralität. Insbesondere Kunstschaffende aus der Oberschicht eigneten sich indigene Bildsprachen an, wobei die indigene und afro-brasilianische Bevölkerung in diesen künstlerischen Perspektiven – ähnlich wie in Darstellungen von Kunstschaffenden der europäischen Avantgarde – jedoch zum idealisierten, illustrativen Darstellungsgegenstand wurde.
Mit der Revolution von 1930 und dem darauf von Getúlio Vargas eingerichteten diktatorischen «Estado Novo» wendete sich die Kunst Themen wie der Ausbeutung der Landarbeiter:innen und der sozialen Ungerechtigkeit sowie einem realistischeren Stil zu. Nach der Absetzung von Vargas setzte sich ab den 1950er-Jahren eine zweite Generation moderner Künstler:innen mit den für den brasilianischen Kontext charakteristischen sozialen und kulturellen Themen Ethnizität, Religion und Arbeitswelt auseinander. Durch ihre Herkunft aus bescheideneren sozialen Verhältnissen und als Nachkommen indigener Einwohner:innen oder afrikanischer Sklav:innen konnten sie die sozialen Ungleichheiten aus ihrer persönlichen Erfahrung heraus artikulieren. Später tauchten diese Themen auch in der konkreten Kunst und der Tropicália-Bewegung aber auch in Architektur und Musik auf. Mit dem Militärputsch von 1964 begann eine neue Ära, in der Künstler:innen die politische und gesellschaftliche Unterdrückung thematisierten.
Brasilien in Bern
Nachdem Kunstwerke der brasilianischen Moderne auf der diesjährigen Biennale in Venedig einen grossen Auftritt in Europa hatten, gibt die Ausstellung Brasil Brasil! Aufbruch in die Moderne erstmals in der Schweiz einen umfangreichen Einblick in die moderne Kunst Brasiliens.
Zu entdecken ist das Schaffen von zehn brasilianischen Künstler:innen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in Ausstellungen und Sammlungen in Europa bislang kaum zu sehen waren. Darüber hinaus vermittelt die Ausstellung mit Fotografien, Filmen und Hörstationen einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Errungenschaften Brasiliens in Literatur, Musik, Design und Architektur. Die in der Ausstellung vertretenen Kunstschaffenden lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Anita Malfatti, Vicente do Rego Monteiro, Tarsila do Amaral, Lasar Segall und Candido Portinari gehören seit langem zum Kanon der brasilianischen Moderne. Sie pflegten Kontakte zur europäischen Avantgarde und entdeckten zum Teil durch die Augen europäischer Intellektueller Facetten der brasilianischen Kultur. Ihre Bildsprache war zu Beginn geprägt von europäischen Kunstströmungen wie dem Expressionismus, dem Futurismus oder dem Kubismus. Obwohl sie sich früh mit indigenen Kulturen auseinandersetzten, geschah dies vorwiegend durch Bücher und Museumsbesuche, ohne dass sie dabei die Lebensrealität der Menschen kannten.
Mit Flávio de Carvalho, Alfredo Volpi, Djanira da Motta e Silva, Rubem Valentim und Geraldo de Barros stehen daneben fünf Kunstschaffende, die lange nicht zum brasilianischen Kanon gehörten. Alfredo Volpi und Djanira da Motta e Silva dienten volkstümliche Bräuche wie Dorffeste oder Rituale als Motive, und Rubem Valentim integrierte Symbole wie Pfeil, Dreieck, Kreis und Beil, die in afro-brasilianischen religiösen Ritualen des Candomblé verankert sind, in seine Kompositionen. Sowohl da Motta e Silva wie auch Valentim waren Teil dieser Kulturen. Da sie keine klassische Kunstausbildung genossen hatten, wurde ihre Kunst lange als «primitiv» oder volkstümlich erachtet. De Barros und de Carvalho bewegten sich zwischen bildender Kunst, Architektur und Design, weshalb sie lange schwer in den Kanon einzuordnen waren. De Carvalho löste zudem mit seinen performativen Aktionen und seinen im expressionistischen Stil gemalten Frauenporträts heftige Reaktionen aus.
Rund 130 Werke zeigen im Zentrum Paul Klee diese Vielfalt der brasilianischen modernen Kunst auf. Die Ausstellung soll dem Publikum Gelegenheit bieten, eine bisher wenig bekannte Kunst und mit ihr ein ganzes Land zu entdecken. (ZPK/mc/ps)