Siegfried Gerlachs Laufbahn scheint eine einzige Verkettung von glücklichen Fügungen zu sein. Hört man ihm jedoch genau zu, ist es die Einstellung, die seine Karriere wie auch seinen Führungsstil beeinflusst. Nicole Heimann unterhielt sich mit dem Mann, der seit 10 Jahren die Geschicke von Siemens Schweiz lenkt.
Von Nicole Heimann
«Ich war ein verpenntes Kind», erinnert sich Siegfried Gerlach an seine Jugend im schwäbischen Essingen (D). Eine weiterführende Schule sei daher anfangs gar nicht in Betracht gekommen. Erst als auf der Realschule die Versetzung gefährdet war, habe er angefangen, mit seiner Mutter zu lernen. Dann ging der Knoten auf: Mit den guten Noten kam die Motivation und dank der Hilfe seines Vaters konnte Gerlach sogar mitten im Schuljahr aufs Gymnasium wechseln. «Ich hatte einen Riesendusel», beschreibt Gerlach seine schulische Laufbahn, die er erfolgreich mit dem Abitur abschloss.
«Per Zufall» ins Ausland
Auch das anschliessende Studium profitierte von einer glücklichen Fügung. «Absolut zufällig» sei Gerlach, der mittlerweile Mathematik in Tübingen studierte, über die Möglichkeit eines Auslandsstudiums gestolpert und habe sich spontan und auf den allerletzten Drücker dafür beworben. Er wurde angenommen, erhielt ein Stipendium an der Oregon State University und schloss nach drei Jahren mit einem Master of Science ab. «Aus meiner Sicht ein Riesenzufall», so Gerlach, der diese Zeit in den USA um nichts missen möchte. In einer Wohngemeinschaft mit einem Koreaner und einem Chinesen lebend, stellte er fest: «Menschen sind einfach Menschen, egal woher sie kommen.» Diversity sei eines der wichtigsten Themen überhaupt, so Gerlach, der seine Führungsarbeit noch heute stark von seinen studentischen Auslandserfahrungen geprägt sieht.
«Per Zufall» zu Siemens
Auch der Einstieg bei Siemens sei «eher Zufall» gewesen, erzählt Gerlach. Mangels Arbeitserlaubnis in den USA bewarb er sich bei verschiedenen Firmen in Deutschland. Dabei beeindruckte ihn die Verkaufsveranstaltung von Siemens am meisten, «von den Themen wie von den Menschen her». So stieg Gerlach beim Technologieriesen Siemens ein – wo er bis zum heutigen Tag blieb.
Einen Grund zum Wechsel habe es für ihn nie gegeben. Der globale Industriekonzern bot dem Diplom Mathematiker genügend Chancen, immer wieder neue Kulturen und Unternehmensbereiche kennen zu lernen. «Bei einem Unternehmen mit 400’000 Leuten weltweit und einer Produktpalette vom Staubsauger bis zum Hochgeschwindigkeitszug gab es für mich immer wieder neue Möglichkeiten», erklärt Gerlach. Deswegen sei er heute eben ein «Siemens-Fossil».
«Zum Glück» gute Chefs
Seit zehn Jahren ist Gerlach CEO und Delegierter des Verwaltungsrates der Siemens Schweiz AG. An rund 20 Standorten beschäftigt das Unternehmen hierzulande mehr als 5’700 Mitarbeiter. Ob er auf diesen Job vorbereitet war? «Ja, und zwar ziemlich systematisch», antwortet Gerlach ohne Zögern. Er habe auf seiner Laufbahn eine Stufe nach der anderen erklimmen dürfen und wurde stets sorgsam an neue Herausforderungen herangeführt. Unmittelbar vor der ersten Führungsaufgabe habe er z.B. sein erstes Führungsseminar absolviert. Seine Chefs hätten ihn immer gecoacht und gründlich auf neue Herausforderungen vorbereitet – etwas, dass in der heutigen Personalentwicklung seiner Meinung nach oft zu kurz kommt.
Zuhören statt reden
Die Übernahme von mehr und mehr Führungsverantwortung hat Gerlach auch menschlich geprägt. «Durch die Fortbildungen wird man sich seiner eigenen Verhaltensweisen viel stärker bewusst.» Das habe Auswirkungen auf das ganze Leben. «Wer Führungsverantwortung übernimmt, neigt natürlich dazu, dies auch im Privatleben zu machen, was unter Umständen problematisch sein kann», so Gerlach. Aber egal ober im Berufs- oder Privatleben: Im Mittelpunkt stünde immer die Kommunikation, wobei das Zuhören stets wichtiger sei als das Reden. «Das ist eine ganz wesentliche Erkenntnis», glaubt Gerlach.
Wichtige Schlüsselmomente
Gelernt habe er immer dann am meisten, wenn ihm Menschen ihr Vertrauen schenkten. Aber auch an besonders schwierigen Aufgaben und unter hohem Druck sei er gewachsen. Ein derartiger Schlüsselmoment, an den sich Gerlach erinnert, war das weltweite Grounding aller Combino-Strassenbahnen, die wegen Festigkeitsmängeln gleichzeitig aus dem Verkehr gezogen werden mussten. Die Zeit habe gedrängt, die Suche nach einer technischen Lösung gestaltete sich schwierig. Der Vorschlag der Experten überzeugte Gerlach nicht und – obwohl er erst wenige Tage auf der Position war – entschied er schlussendlich nach seinem gesunden Menschenverstand. Es funktionierte! Der Vorfall habe ihm nicht nur das Vertrauen und den Respekt seiner Mitarbeiter gebracht, sondern auch innere Sicherheit und Ruhe. «Solche Situationen sind prägend und extrem lehrreich», ist sich Gerlach sicher.
«So wenig wie möglich, so viel wie nötig»
Gerlachs persönliche Lebenserfahrung sei, dass man gute Leute an der langen Leine lassen, sie bei Bedarf coachen und ehrliches Feedback geben sollte. Die Freiheiten, die er während seiner eigenen Laufbahn genossen habe, möchte er auch seinen Mitarbeitenden zugestehen. «So wenig wie möglich, so viel wie nötig», fasst er seine Führungsphilosophie zusammen. Nur in gewissen Phasen, in denen man die Richtung vorgeben müsse, brauche es Führung. Ausserdem möchten nicht alle Menschen ein gleich hohes Mass an Selbständigkeit. «Manchmal braucht es auch Guidance, damit sich Menschen sicher fühlen», sagt Gerlach und vergleicht sich mit einem erfahrenen Bergführer, der die Gruppe rechtzeitig vor den Gefahren auf dem Weg zum Gipfel warnt.
«Führung kann man nicht delegieren»
Nach seinen Spuren bei Siemens Schweiz befragt, fällt Gerlach als Erstes das Thema Gender Diversity ein, das er bereits relativ früh aufgegriffen habe. Allerdings glaubt er, dass die Erfolge bisher noch bescheiden sind.
Ein weiteres Thema, das seine Zeit als CEO von Siemens Schweiz rückblickend kennzeichnen würde, sei ein kultureller Wandel. «Ich glaube, ich habe eine Kultur geschaffen, die eine echte Speak up-Mentalität erlaubt.» Gerlach entnimmt dies u.a. der Mitarbeiterzufriedenheit von Siemens Schweiz, die statistisch signifikant höher sei als die des Gesamtkonzerns. «Ich versuche, ein CEO zum Anfassen zu sein. Bei mir steht die Tür offen.» Früher sei er jede Woche zwei Stunden durch Abteilungen, durch das Werk gelaufen und habe mit den Leuten geredet. Bei mehreren tausend Mitarbeitenden sei dies heute allerdings nicht mehr möglich.
Menschen ernst zu nehmen und jedem gegenüber eine positive Einstellung zu entwickeln, ist für Gerlach sehr zentral. «Wenn man es schafft, das Vertrauen der Mitarbeitenden in die Führung zu erhöhen, steigt auch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit», so die Erfahrung Gerlachs. Heute stünde für die Führungsarbeit leider oft zu wenig Zeit zur Verfügung. Sie koste aber Aufwand und könne nicht delegiert werden. «Führung macht man nicht mit links, auch nicht als Linkshänder!»
«Hurra, ein Problem!»
Für Gerlach ist seine Arbeit mehr als ein Job. Sie bereitet ihm auch ehrliche, persönliche Befriedigung. «Ich gehe einfach extrem gerne zur Arbeit.» Es mache ihm Spass, etwas zu bewegen und Menschen mit auf eine Reise zu nehmen. Dabei sei ein Problem für ihn immer in erster Linie eine Herausforderung. Einer seiner Sprüche sei: «Hurra ein Problem, es braucht mich!», den sich Gerlach mit seiner mathematischen Grundausbildung erklärt.
Als CEO von Siemens Schweiz steht der 65-Jährige kurz vor dem Ende seiner beruflichen Reise. Gerlach wird im kommenden Frühjahr pensioniert – oder wie er es branchengerecht ausdrückt, er sei «end of lifecycle». Eine Verwaltungsratskarriere sei aufgrund seines Alters eher unwahrscheinlich. Sollte ihm aber etwas Spannendes über den Weg laufen, wolle er es sich überlegen. Er sei froh, bis 65 hochaktiv gewesen zu sein, resümiert er zufrieden sein Berufsleben. Doch wer weiss, welche glückliche Fügung die Zukunft für den Siemens-Mann noch bereithält…
Über Nicole Heimann & Partners AG
Nicole Heimann & Partners AG hat sich exklusiv auf das professionelle Coaching von High Level, High Performance Individuen und Teams spezialisiert mit dem Ziel, authentische Leadership Alliances in Unternehmen zu etablieren. In ihrem Buch «How to develop the Authentic Leader in you» zeigt Nicole Heimann den Wert von authentischer Führung in unserer Wirtschaft. Die Einnahmen des Buches gehen direkt an die Bullens Heimann & Friends Stiftung.